Home

ICH2Digitaler Individualismus! Das schreit es allerorts um die Ohren. Das Wort ist frei! Wird zumindest angenommen. Das wird als Anlass gesehen, die eigene Meinung immer und überall in jeder nur erdenklichen Onlineform kund zu tun. Naja, nicht ganz…

 

Kurti war ein normaler Teenager. Ein paar Freunde hier, ein paar Feinde da. Lehrer_innen, zu denen er aufblickte, jene, über die er sich wunderte und sogar solche, die verachtet wurden. Nachmittags traf er sich mit seinen Freunden zum Kicken, hin und wieder auch mit einem Mädchen. Die weiblichen Geschlechtsorgane kannte er aus der Bravo, dem Biologiebuch und dem Pornoheftl, dass sie einmal beim heimlichen Rauchen hinterm Busch gefunden hatten. Abends warf er den Nintendo an. Damals, als Kurti ein 15-Jähriger Bursch war, gab es das Internet gerade einmal in einer 56k-Verbindung. Es ging nur, wenn die Mama nicht telefonierte. Und es war langsam. Dann die Geräusche! „Tuuut“, „chhchchch“ und „tüdü-lü“.

 

Es war ein noch lauer Spätsommertag, als das erste Mal der neue Geographielehrer ins Klassenzimmer trat. Den Idioten hatte die 5B schon im letzten Jahr gehabt. In Kurtls Augen ein präpotentes Arschloch, der zwischen Jovialität und Tyrannei hin- und herwankte – geben wir es zu, nichts Ungewöhnliches. Als Kurti aufgerufen wurde, schickte sich der Pädagoge wieder an, ihn fertig zu machen. Es war nun keine schwierige Frage, im Grunde genommen. „Nenne die Hauptstädte der baltischen Staaten“, sagte der Lehrer, „und ordne sie folgendermaßen zu: Estland, Lettland, Litauen!“ Das Dumme war, dass Kurti, obwohl in Stadt-Land-Fluss schulintern eine Koryphäe, in Stresssituationen dazu neigte, Dinge zu verwechseln. Und weil dann immer auf der Landkarte Estland dort ist, wo eigentlich Lettland liegt, das an Litauen statt verortet wird und Lettland nach Estland verlegt wird, kam „Riga, Vilnius, Tallinn“ dabei heraus.

 

Die Folge war eine wohlbekannte Bloßstellung des Eleven nach allen Regeln der schwarzen Pädagogik. Kurt mutierte sofort zur Lachnummer und zog sich nach dem Unterricht in sein Zimmer zurück. Er kiefelte an der Niedertracht des Geo-Professors. Seine Eltern bemerkten geistesgegenwärtig den schlechten psychischen Zustand des Jungen, ließen ihn aber in Ruhe. „Des wird scho wieder“, in Reinkultur. Nach ein paar Tagen und weiteren Schmähungen des Lehrers reichte es ihm aber. Kurti ließ sich einen Termin bei der Direktorin geben und schilderte ihr den Umgang des Pädagogen. „Das werden wir gemeinsam besprechen müssen“, meinte sie und lud den Prof ins Büro ein. Dieser stritt alles ab – „Glauben Sie mir mehr oder einem 15-Jährigen, Frau Chefin?“ – und mit einem vertrauensvollen Blick musste die Direktorin Kurti mitteilen, dass nichts zu tun sei. „Es steht Aussage gegen Aussage.“

 

Seine Freunde waren ihm keine große Hilfe. Auch wenn der eine oder andere Kumpel auch geärgert wurde, so ergötzte sich die Klasse doch köstlich an den Verarschungen. „Ist doch wurscht!“, „Macht uns doch eh Spaß!“, „Jo, es ärgert, geht aber wieder vorbei!“. Mit dem Nahen der Semesternachricht dämmerte es dann aber auch den anderen Verschmähten, dass sich die Stundenwiederholungen auch in miesen Noten niederschlagen würden. Zwar wäre ein Fetzen verschmerzbar, aber wenn jemand in Mathematik oder Englisch auch noch schwach war, gebe es statt Italien im Sommer zwei Nachzipf’. Endlich öffnete sich Kurti seinen Eltern. Diese korrespondierten auf Bitte mit anderen Eltern und sprachen die Direktorin gemeinsam an. Und damit änderte sich das Verhalten des besagten Lehrers.

 

Wie würde diese Geschichte heutzutage ablaufen? Vielleicht würde ein frustrierter Kurti im schuleigenen Forum unter anderem Namen den Lehrer – wenn auch vielleicht sogar legitim! – beflegeln. Oder, dann wirklich schlimm, sich unter dessen Namen registrieren und sein Unwesen treiben. Gut, unser Kurti würde das nicht so machen. Er würde dann doch eher einen Freund bitten, die Szenerie mit dem I-Phone zu filmen und umgehend der Direktorin vorzulegen. Der springende Punkt aber ist: Damals, da waren wir alle gezwungen, solche Ungerechtigkeiten mit Bauch-rein-Brust-raus zu lösen. Von Gesicht zu Gesicht, unter Miteinbeziehung einer gehörigen Portion „erwachsenen“ Verhaltens.

 

Umgelegt auf ein erwachsenes Umfeld bedeutet eine moderne Deutung der Geschichte in meinen Augen, dass ich mich bei Ungerechtigkeiten ins Netz einlogge und dort anonym meine Meinung kund tue. Immer raus damit – weiß eh niemand. Bis auf das Ding mit der IP, aber das lassen wir einmal weg. Mittlerweile bin ich auch persönlich für eine, von mir aus, freiwillige Verpflichtung zum Klarnamen. Welches Bild vermittle ich denn? Wer sich an der Meinungsfreiheit aufhängt, vergisst doch bitte schön, dass Meinungsfreiheit nicht bedeutet, jeden Scheiß in den digitalen Äther hinauszuposaunen.

 

In der Diskussion um Klarnamen im Internet geht nämlich das Recht flöten. Das Recht an uns selbst. Denn wenn ich jemanden im Internet anonym beflegle, kann das als Boomerang auch zurück kommen. Das kann ungut werden. Nicht wenige Leute verlangten schon von diversen Forenbetreibern die Herausgabe der IP-Adresse, um an den echten Namen heran zu kommen. Anzeigen können nämlich auch kommen, wenn der „hasenscharte_77“ Recht bricht. Die Netzanonymität endet, wo das Recht einzelner verletzt wird! Genau so, wie mich HC Strache vermutlich verklagen würde, wenn ich auf öffentlicher Bühne „Du bist ein Neonazi!“ sagen würde, so dürfte er auch im Netz klagen, da ich mir schwer tun würde, das zweifelsfrei zu beweisen.

 

Zum Einen kann jeder, der etwas loswerden will und seine Identität verschleiern will, das ohnehin tun. Ich kann und will es nicht, habe auch nicht das Gefühl, es nötig zu haben. Wer’s kann, schafft’s. Zum Anderen legitimiert eine (vorgegaukelte) Netzanonymität nicht, die gute (?) Kinderstube zu vergessen und in einer Art und Weise seine Meinung kund zu tun, die nicht mehr nur moralisch verwerflich, sondern schon zivilrechtlich relevant ist. Das hat nichts mit einem „Nannystate“ zu tun, sondern mit den Anforderungen an sich selbst, sich in einem gewissen gesellschaftlichen Rahmen zu verhalten. Ich will auch diversen Politikern am liebsten eine Dätschn geben, wenn sie zur eigenen Profilierung menschenverachtend den rechtesten Rechtsrand der eigenen Partei abdecken. Die Konsequenzen wären aber klar.

 

Wer eine Meinung abseits des Mainstreams hat, wird damit leben lernen müssen, dass er angreifbar wird, wenn er sie formuliert. Das hat dann noch mehr mit Metternich zu tun, als es in der scheinbar unendlichen und unendlich anonymen Onlinewelt der Fall ist. Wenn beispielsweise jedes Mal, wenn ein Kindesmord bekannt wird der digitale Lynchmob shitstormartig losrückt, dann wird zumindest auf Moderatorenebene, so es diese gibt, mehr spitzelig vorgegangen, als wenn die Menschen durch den eigenen Namen gezwungen sind, wenigstens doch nur einmal kurz inne zu halten und zu überlegen, ob das wirklich so geschrieben werden soll.

 

Pathetisch soll es zu Ende gehen: Der Kurtl hätte in einer negativen Ausnutzung der digitalen Welt wenig gelernt, wie Unrecht wirksam bekämpft werden kann. Zwar hätte er seinem Antipoden vermutlich denselben seelischen Schmerz zugefügt, den er erleiden musste, aber die Grenze zum moralisch tragbaren schon selbst überschritten. Wie man in’s Klo scheißt, so stinkt es raus. In meinem Bild hat Kurt geputzt. Und sicherlich mehr davon. Die vorgegaukelte Netzanonymität verwischt die Scheiße nur noch mehr und verteilt sie auf der Brille, dem Spülkasten und den Wänden.

 

Hinterlasse einen Kommentar